Die Sache mit Vergeben

Es gibt einen Begriff, der mich immer wieder einholt: Das „Sei-Spontan-Paradoxon“. Im Grunde ist es genau das, was es aussagt: Wenn dir jemand befielt: „Sei spontan!“ ist es für dich unmöglich, zu gehorchen, weil Spontanität niemals auf Knopfdruck geschehen kann. Egal, was du tust, du wirst das Falsche tun bzw keinen Erfolg haben.

iuACJSN88A.jpgEs gibt eine Menge solcher „Sei-Spontan-Paradoxien“, die zwar einen anderen „Befehl“ haben, aber auf dieselbe Weise funktionieren – oder eben NICHT funktionieren. „Glaub daran, dass du es kannst, ich helfe dir auch.“, „Schlaf jetzt!“, „Liebe diese Person!“

Und ich stelle mal eine kühne Behauptung auf: Auch „Vergebe!“ kann ein solches Paradoxon sein.

Ich rede hier nicht vom Vergeben bei einem versehentlichen Anrempeln oder einer unsensiblen Antwort. Ich meine nicht, dass man anfangen sollte, Leuten nachzutragen oder Rache durchsetzen. Bitte nicht falsch verstehen. Ich bin mir bewusst, wie schädlich es sein kann, nicht vergeben zu wollen und wie sehr Bitterkeit und Hass einen selbst und andere verletzen können.

Trotzdem. „Vergebe!“ als Befehl zu formulieren finde ich Pferdescheiße. Weil es nicht auf Knopfdruck funktionieren kann. Nicht, wenn es wirklich etwas Massives zu vergeben gibt. Denn das würde uns als Menschen zutiefst entwürdigen. Nein, ich rede nicht von Demut. Ich rede von Entwürdigung. Und das nicht mitzumachen ist gesund. Egal also, ob dieses „Vergebe!“ ein Befehl von einem anderen Menschen ist oder im eigenen Kopf entsteht, als Befehl, als ein „Du musst!“ und ein „Wehe, wenn nicht!“ kann und darf es nicht funktionieren.

Ich erzähle mal wieder etwas von mir. Vor einigen Jahren habe ich heraus gefunden, dass es Menschen in meinem Umfeld gibt, die ich geliebt und denen ich vertraut habe, die für mich zu den wichtigsten Personen auf der Welt gehört haben, die mich aber auf eine sehr hinterhältige Weise manipuliert und klein gehalten haben. Und dieses Wissen hat mich einerseits verstehen lassen, woher viele meiner Denkweisen kommen, mit denen ich mich selber klein gemacht habe, dass ich mir kaum etwas zutraue und nur unter Mühe „normal“ leben kann. Andererseits war es eine unvorstellbar große Enttäuschung für mich, es hat mich unvorstellbar wütend, traurig, hilflos gemacht, ich hatte das Gefühl, ein Großteil meiner eigenen Geschichte wäre eine Lüge. Und die Tatsache, dass diese Menschen nicht fähig waren zur Selbstkritik und bei jeder unerfreulichen Rückmeldung entweder sich selbst so übertrieben schlecht machten, dass man selbst ein schlechtes Gewissen bekommt, weil man ihnen das gesagt hat, oder den anderen dumm dastehen lassen nach dem Motto „Du weißt es einfach nicht so gut wie ich“ machte es auch nicht besser.

Besonders was das Vergeben angeht. Da war ich nämlich noch viel mehr evangelikal als ich heute bin und daher gab es immer diese Einreden in meinem Kopf wie „Du musst vergeben, sonst wird dir Gott auch nicht vergeben.“ Was mich total unter Druck gesetzt hat. Immerhin war es ja „Eine Entscheidung, kein Gefühl!“ und „Schließlich hat Gott mir auch vergeben, also muss ich es jetzt auch genauso gut können!“ Bin an meine Grenzen gestoßen. Hab gemerkt: Selbst wenn ich es wollte, ich könnte es nicht! So hab ich das dann auch gebetet. „Jesus, das, was die gemacht haben, hat mich so verletzt! Wie konnten sie nur? Ich fühle mich so betrogen! Und du? Was erwartest du jetzt etwa von mir? Dass ich vergebe?!“

Und was hat er gemacht? Mich auch unter Druck gesetzt nach dem Motto „Wenn du es nicht so gut kannst wie ich, dann kann ich jetzt nichts mehr mit dir anfangen“? Ganz im Gegenteil. Er hat mir erstmal einfach nur zugehört. Mich wütend sein lassen. Mich schimpfen lassen. Und mir beigebracht, wie ich in Zukunft Grenzen setzen kann. Damit ich nicht länger manipuliert werde. Hat mir dabei geholfen, herauszufinden, was ich jetzt brauche. Wie ich tatsächlich erwachsen werden kann. Oder erwachsener. Und als ich von mir aus nach einiger Zeit bei ihm angekommen bin mit der Frage, ob er denn nicht von mir erwartet, sofort zu vergeben, meinte er, ob ich das denn könnte. Ich so: „Nein. Sorry.“ Und dann, ob ich, wenn ich könnte, es denn wollen würde. Ich musste erst einen Moment nachdenken, aber dann habe ich gesagt, wenn ich es könnte, würde ich es schon wollen. Schon alleine wegen den positiven Auswirkungen von Vergebung. Das hat ihm dann voll gereicht. (Ich glaube, ein Problem wäre es vielleicht geworden, wenn ich dauerhaft gesagt hätte, ich will nicht vergeben. So hat er mir einfach nur die Zeit gelassen, die ich brauchte. Es eilte ja nicht.)

Dadurch konnte ich auch einfach dann meinen Weg gehen und meine weiteren Erfahrungen machen. Durch die ich mich auch verändert und von denen ich auch gelernt habe. Und dann irgendwann die ganze Sache, die Manipulationen, die subtile Gewalt, ein wenig mit den Augen der Person sehen, die es gemacht hat. Es ein wenig nachvollziehen können, ohne zu bagatellisieren. Und so vom Verstand her verstehen können, warum diese Person so handelt. (Es ist eine psychische Krankheit.) Und mit diesem Hintergrund und mit der Zeit, die inzwischen vergangen ist, konnte ich irgendwann auch die Sache vergeben im Sinne von loslassen. Nicht mehr ständig daran denken, wenn ich diese Person sehe. Es als einen Teil meiner Vergangenheit und ihrer Einschränkung sehen lernen. Und, wenn dieses Thema auf den Tisch kommt, doch deutlich sagen, was ich denke, da Gott mir vorher beigebracht hat, Grenzen zu ziehen.

Man sagt, die Zeit heilt die Wunden. Ich denke, da ist was dran. Nein, ich meine damit nicht, dass es nur genug Zeit braucht und alles wird wieder gut. Nur, dass die Zeit, genau wie das Vergeben, ein „Medikament“ von Gott ist, das hilft, die Verletzung zu heilen. Genau wie die Möglichkeit, zu schimpfen, zu klagen und zu schreien. Und mit Gott gemeinsam kann man rausfinden, wie und in welcher Dosierung sie eingenommen werden sollten. Wenn man das Schimpfen und Klagen und Schreien einfach nicht einnimmt, ist das wie, wenn man eine dicke Erkältung hat, aber sich weigert, Schleimlöser zu nehmen: Der Mist bleibt drin, setzt sich fest und hinterher ist man schlimmer dran, als wenn man mal das Zeug genommen hätte. Und wenn man das Medikament Zeit nicht bis zum Ende nimmt, ist es wie wenn man Antibiotika vorzeitig abbricht: Die Scheiße geht von Vorne los, vielleicht bilden sich sogar Resistenzen. Und erst, wenn man soweit ist, kann man vergeben.

Nicht auf Kommando, ohne vorher Schleimlöser und Antibiotika genommen zu haben. (Wie Schleimlöser und Antibiotika auch immer im Einzelnen aussehen mögen)

Und nicht einfach, weil man es als guter Christ eben tut. Denn „du sollst nicht lügen“.

Soll ich das hier jetzt veröffentlichen? Bin mir mal wieder wie so oft nicht ganz sicher. Werde es aber wohl doch tun. Ich glaube, die Leute, die hier mit lesen sind kritisch genug um zu überprüfen, ob es stimmt oder Quatsch ist und sozialkompetent genug um mir freundlich die Meinung zu geigen 😀

Schönen Tag noch. Und vertragt euch, damit das hier eigentlich gar nicht erst nötig wird 😛

2 Gedanken zu “Die Sache mit Vergeben

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