… Reasons Why…
oder: Die dunkle Seite des Schmetterlingseffekts.
Ich habe seit einiger Zeit ein Netflix-Abo, weil ich gerne „Tote Mädchen lügen nicht“ sehen wollte. (An dieser Stelle sowohl Trigger-Warnung als auch Spoiler-Warnung.) Kurz zum Inhalt: Ein Junge bekommt eines Tages ein Paket mit Audio-Kassetten, die durchnummeriert sind. Als er die erste hört, hört er als erstes:
„Hallo, hier ist Hannah. Hannah Baker. Keine Sorge, mit deinem Rekorder ist alles in Ordnung. Mach’s dir bequem, denn ich werde dir jetzt die Geschichte meines Lebens erzählen. Genauer gesagt, warum mein Leben endete. Und wenn du diese Kassetten hörst, bist du einer der Gründe dafür.“
Hannah Baker war eine Mitschülerin, die sich umgebracht hat.
Weder er noch die meisten anderen „Protagonisten“ der Kassetten wollten ihr wirklich Böses. Sie waren teilweise nur leichtsinnig, egoistisch, gleichgültig, auf sich selbst fokussiert, wollten einfach toll da stehen. So hat keiner gesehen, was er bei einem sensiblen Mädchen anrichtet.
Und jetzt bekommen sie einer nach dem anderen ihr Fett weg. Weil sie wollte, dass sie erfahren, was ihr Handeln oder Nicht-Handeln angerichtet hat.
Auch ein Schmetterlingseffekt. Nicht nur, dass er einen befreienden Sturm auslösen kann, der Flügelschlag kann auch einen tödlichen Sturm auslösen. Angefangen mit einem unangemessenen Foto eines Jungen, das Hannah in missverständlicher Pose zeigt, einem Jungen, der bei seinen Freunden angeben will, das Foto landete auf den Handys der Klasse, ein dummer Scherz, der andere Jungen ermutigt hat, Hannah sexuell zu belästigen, was dazu führte, dass Gerüchte umgingen, Hannah sei eine Hure… ich glaub, ich muss nicht näher ins Detail gehen.
Wer hat geholfen? Wer hat gesehen, welche Katastrophe sich anbahnte?
An dieser Stelle bringe ich einfach mal ein paar Anzeichen, woran man möglicherweise erkennen könnte, dass eine Person an Selbstmord denkt oder einen Selbstmord plant.
- sie denken ständig nur an eine Sache, ein Problem, sie sehen keine Hoffnung mehr, dass sich das Problem lösen lassen könnte.
- Sie sind emotional sehr aufgewühlt, glauben, ganz allein zu sein. Vorsicht: Kurz vor dem Selbstmord können sie sehr fröhlich und gelöst werden. Das bedeutet nicht unbedingt, dass das Problem gelöst ist, sondern dass es ihnen jetzt egal ist.
- Sie machen Andeutungen, zum Beispiel: „Ich wünschte, ich könnte einfach sterben.“
- Unerledigte Dinge werden erledigt. Das Testament gemacht. Es werden plötzlich lauter Dinge verschenkt.
- Sie verhalten sich manchmal rücksichtslos, oft gefährlich für sich selbst.
- Sie besitzen (plötzlich) Waffen, horten Medikamente, kaufen Rasierklingen etc.
- Sie ziehen sich unauffällig aus ihrem sozialen Umfeld zurück.
- Die tägliche Rutine wird geändert.
- Sie werden passiv, lethargisch.
- Sie haben oft in naher oder ferner Vergangenheit viel Schlimmes erlebt.
- Sie haben oft psychische Erkrankungen
- Es gab vllt schon in der Familie Suizid.
(Klar, nicht alle Punkte treffen immer zu, aber es sind Anzeichen, dass was in der Luft liegen könnte. Seit einiger Zeit macht auch eine Art Internetspiel die Runde, an dessen Ende Selbstmord steht. Anzeichen wären z.B. eingeritzte Arme, vor Allem in Form eines Tieres.)
Für weitere Hilfe und Beratung gibt es eine kostenlose Nummer:
Was ich aber eigentlich schreiben wollte: Ich glaube, man merkt gar nicht, was man bei anderen anrichtet, wenn man sie instrumentalisiert, um beispielsweise gut da zu stehen. In der Serie war es zum Beispiel ein Junge, der bei seinen Kumpels angeben wollte, dass er mit einem Mädchen geschlafen habe, was aber nicht stimmte. So hat er sie zum Objekt für seinen Ruf gemacht. Eine andere Situation könnte sein, dass jemand als besonders geistlich angesehen werden will und so vor versammelter Mannschaft für die arme Schwester laut betet, die so schlimm in Sünde gefallen ist. Ohne, dass die arme Schwester einverstanden wäre. Sie wird zum Objekt für seinen Ruf gemacht. Und wenn sie Hannah Baker wäre, oder werden würde, dann käme sicher auch der super-geistliche Bruder auf den Kassetten vor.
Und jetzt kommt der Hammer. Sitzt du? Denn jetzt werde ich dich richtig schocken.
Ich glaube nicht nur, dass ich auf einer solchen Kassette drauf wäre. Ich weiß es. Es war im letzten Sommer. Eine gute Freundin hatte einen gewalttätigen Freund, der sie nicht in Ruhe gelassen hat. Sie hat sich getrennt, ist dann aber wieder mit ihm zusammen und wieder getrennt und wieder zusammen und wieder getrennt.
Dann hat sie mir an einem Tag gesagt, dass sie (wieder) Schluss gemacht habe. Kurz danach gehe ich über die Fußgängerzone und sehe die beiden zusammen. Ich war geschockt. Hab sie, also meine Freundin angesprochen. War eine etwas peinliche Situation, aber ich wollte, dass sie wusste, dass ich sie gesehen habe. Obwohl sie mir kurz vorher noch was anderes gesagt hatte. Vielleicht hat sie gelogen? Vielleicht hat sich in den paar Stunden aber auch wieder alles geändert? Ich weiß nicht. Aber was ich weiß ist, dass ich dem Typen gegenüber keinen Ton gesagt habe. Ich habe nur mit meiner Freundin geredet, ihn komplett ignoriert. Ich wusste, dass ich ihn damit verletze, das war mir in dem Moment sogar ganz recht, weil ich wusste, was er meiner Freundin angetan hat. Im Grunde habe ich ihn benutzt, um mein Gerechtigkeitsempfinden zu befriedigen. Arschloch wird wie Arschloch behandelt. Und das bei mir, die ich aus eigener Erfahrung weiß, wie es sich anfühlt, systematisch ignoriert zu werden.
Kurz danach kam der Artikel Mindfuck! raus: Suizid.
Nachher ist man immer schlauer. Das Traurige ist aber, dass ich nicht weiß, ob ich in Zukunft in ähnlichen Situationen anders handeln würde. Ich kann keine Garantie geben, weil ich emotional so involviert war, dass ich kaum anders konnte, als den Kerl zu hassen. Wie hätte ich nicht, wenn er eine Person, die mir sehr nahe steht, misshandelt, psychisch immer wieder runter macht, beinahe totschlägt, mitsamt ihrem damals noch ungeborenen Kind? Wie soll ich da mit ihm empathisch sein? Das ist eine ernst gemeinte Frage, und bitte jetzt nicht so platte Antworten wie „Wenn du nur nah genug an Jesus bist, wirst du es schon können.“ Ich will nicht, dass meinen Freunden so etwas Schreckliches passiert, aber ich will auch nicht dazu beitragen, dass jemand sich so etwas antut.
Was eine Serie so alles auslösen kann… .